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DER OBERBUNDESANWALT     Beglaubigte Abschrift
beim Bundesverwaltungsgericht

Gesch.-Z.: 6 R 110. 98
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Der Oberbundesanwalt beim Bundesverwaltungsgericht
Bundesallee 216 - 218, 10719 Berlin     08. Juli 1998

Bundesverwaltungsgericht
3. Senat
Hardenbergstraße 31

10623 Berlin

 

Betr.:
Verwaltungsstreitsache
Horst Fuhse, 22926 Ahrensburg,
gegen das Landesamt für Straßenbau
und Straßenverkehr Schleswig-Holstein, 24106 Kiel
wegen Straßenverkehrsrecht

Bezug: Ihr Schreiben vom 27. März 1998
BVerwG 3 C 9.98 -

 

Ich beteilige mich an dem Verfahren.

In Übereinstimmung mit dem Bundesministerium für Verkehr äußere ich mich zu der für die Revisionszulassung maßgeblichen Frage, ob und inwieweit der Straßenverkehrsbehörde bei der auf § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG gestützten Entscheidung über eine zeitliche Ausdehnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung eine Einschätzungsprärogative zusteht und welche tatsächlichen Erhebungen über die Verkehrsdichte dabei zu berücksichtigen sind, wie folgt:

Der Verordnungsgeber hat mit der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) entschieden, auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen für Pkw sowie für andere Kfz mit einem zulässigen Gesamtgewicht bis zu 3,5 t keine höchstzulässige Geschwindigkeit vorzuschreiben. Auf diesen Straßen gilt für die benannten Fahrzeuge nach der Autobahnrichtgeschwindigkeits-Verordnung eine Richtgeschwindigkeit von 130 km/h.

Nach Maßgabe des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO können die zuständigen Straßenverkehrsbehörden der Länder die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken aus Gründen der Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs beschränken und damit auch höchstzulässige Geschwindigkeiten für Pkw und Kfz mit einem zulässigen Gesamtgewicht bis zu 3,5 t mittels Zeichen 274 StVO auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen anordnen. Eine solche Verkehrszeichenanordnung darf aber nicht auf allgemeinen Erwägungen der Gefahrenabwehr bzw. der Verkehrssicherheit beruhen, sondern muß durch die Verkehrssituation vor Ort zwingend indiziert sein. Dabei sind u.a. der Ausbauzustand der Straßenstrecke, die Fahrbahnbeschaffenheit, die Straßengeometrie, die Verkehrsdichte (einschließlich der Spitzenbelastungen am Tag) und die Unfallbelastung zu berücksichtigen. Eine Einschätzungsprärogative steht der Straßenverkehrsbehörde insoweit nicht zu. Die Verkehrbeschränkung kann nicht auf allgemeine oder verallgemeinernde Gesichtspunkte, Einschätzungen oder Erkenntnisse abgestellt werden - vielmehr hat die Straßenverkehrsbehörde einzelfallbezogen konkret festzustellen und zu begründen, daß die beabsichtigte Verkehrsbeschränkung für eine bestimmte Straßenstrecke aus bestimmten Gründen zwingend erforderlich ist und andere, weniger beschränkende Maßnahmen die Sicherheit des Verkehrs nicht realisieren können. Dabei ist auch zu prüfen, ob die Maßnahme ganztägig oder nur für bestimmte Tages- oder Nachtzeiten zwingend notwendig ist. Das Prüfergebnis ist zu begründen. Allgemeine Überlegungen beispielsweise dergestalt, daß bei festgestellten Unfallzahlen und hoher Verkehrsdichte Geschwindigkeitsbeschränkungen erfahrungsgemäß Unfallreduzierungen zur Folge haben werden, reichen nicht aus.

Es war immer schon Voraussetzung für eine Verkehrsbeschränkung, daß sich diese aufgrund der besonderen Umstände als zwingend erforderlich aufdrängt und begründen läßt. Da dies nach Auffassung des Verordnungsgebers jedoch von den Straßenverkehrsbehörden nicht immer berücksichtigt worden ist, ist diese Grundvoraussetzung - deklaratorisch - in die StVO eingestellt worden.

Dies ist mit der Änderung der StVO durch die 24. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 7. August 1997 (BGBl. I S. 2028), die am 1. September 1997 in Kraft getreten ist, erfolgt. Daß den Straßenverkehrsbehörden keine Einschätzungsprärogative zusteht, ist jetzt unmittelbar bindendes Recht geworden. Der neu in den § 45 StVO eingestellte Absatz 9 bestimmt, daß Verkehrszeichen nur dort anzuordnen sind, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Insbesondere Beschränkungen des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn aufgrund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in § 45 StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Solche Rechtsgüter, deren Gefährdung die Anordnung einer besonderen Beschränkung des fließenden Verkehrs rechtfertigen können, sind insbesondere die Sicherheit und Ordnung des Verkehrs. Aus diesem Grunde darf die Straßenverkehrsbehörde in den fließenden Verkehr mit Verkehrsbeschränkungen nur dann eingreifen, wenn dies im Interesse der Sicherheit und Ordnung des Verkehrs erforderlich ist, weil, wie § 45 Abs. 9 StVO verbindlich formuliert, die Gefahrenlage das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen (§ 45 Abs. 1 ff. StVO) genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Der Begriff "erheblich übersteigt" verlangt damit von der Straßenverkehrsbehörde, für ihre Anordnung streckenbezogen konkrete Gründe anzugeben, die die Anordnung als zwingend erforderlich charakterisieren. Allgemeine Erwägungen und Vermutungen - ein Beurteilungsspielraum - verbieten sich.

Grundlage für diese Rechtsänderung war für den Verordnungsgeber, daß gerade im fließenden Verkehr heute vielfach nicht zwingend gebotene Beschränkungen angeordnet werden, um den allgemeinen Gefahren des Straßenverkehrs zu begegnen. Das damit verfolgte Ziel, das allgemeine Risiko der Teilnahme am Straßenverkehr durch Verkehrszeichenanordnungen - mit der dadurch beabsichtigten Verhaltenssteuerung der Kraftfahrer - abzumildern, unterfällt aber nicht dem Zuständigkeitsbereich der Straßenverkehrsbehörde, sondern allein dem Willen des Verordnungsgebers. Dieser hat sich ausdrücklich, insbesondere auch durch die korrespondierende Neuformulierung des § 39 Abs. 1 StVO dafür ausgesprochen, daß Verkehrszeichenanordnungen nur noch auf Basis eines objektiv zwingenden Grundes vorgenommen werden dürfen. So bestimmt § 39 Abs. 1 StVO ausdrücklich, daß alle Verkehrsteilnehmer die allgemeinen und besonderen Verhaltensvorschriften der StVO eigenverantwortlich zu beachten haben und Verkehrszeichenanordnungen ortsspezifisch nur dort getroffen werden dürfen, wo dies aufgrund der besonderen Umstände zwingend geboten ist. Der Verkehrsteilnehmer hat seine Fahrgeschwindigkeit an den Grundsätzen des § 3 Abs. 1 StVO auszurichten. Nicht die Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung durch Zeichen 274, sondern die eigene Einsicht, mit seinem Fahrzeug am Straßenverkehr nur so schnell teilzunehmen, daß es jederzeit beherrschbar ist, ist vorrangig.

Die vorgenannten, die Verwaltung bindenden Bestimmungen des Verordnungsgebers erfordern, daß Verkehrszeichenanordnungen straßenstreckenbezogen konkret begründet sein müssen. Ist dies nicht möglich, darf eine Verkehrszeichenanordnung - gleich welcher Art - nicht erfolgen und bereits aufgestellte Verkehrszeichen müssen aus dem öffentlichen Verkehrsraum entfernt werden. Einmal getroffene Verkehrsbeschränkungen müssen überdies in gewissen Zeitabständen auf das Fortbestehen des Anordnungsgrundes hin und bei konkretem Anlaß überprüft werden. Konkret gesagt darf die Straßenverkehrsbehörde deshalb beispielsweise die Verkehrszeichenanordnung nur mit der Unfallrate (also der Zahl der Unfälle bezogen auf die auf einer bestimmten Strecke gemachten Fahrleistungen) im Vergleich mit der für eine vergleichbare Strecke ermittelten Rate begründen, wenn sich daraus eine Gefahrenlage ergibt, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in § 45 Abs. 1 StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Sie muß darüber hinaus auch prüfen, ob die von ihr beabsichtigte Maßnahme der Verkehrsbeschränkung im Vergleich zu den Rechten und Pflichten der Verkehrsteilnehmer aus einer eigenverantwortlichen Teilnahme am Straßenverkehr ein verhältnismäßiges Mittel ist, welches im Vergleich mit anderen Möglichkeiten der Verbesserung der Verkehrssicherheit das am besten geeignete und die Eigenverantwortung der Verkehrsteilnehmer am wenigsten einschränkende darstellt.

Sind für die festgestellten Unfälle beispielsweise die Differenzgeschwindigkeiten zwischen überholenden Lkw und Pkw hauptursächlich, kommt anstelle einer Geschwindigkeitsbegrenzung für Pkw ein Lkw-Überholverbot als weniger eingreifendes Mittel in Betracht. Wenn sich die streckenbezogen festgestellten Unfälle im wesentlichen bei Geschwindigkeiten deutlich unterhalb der Richtgeschwindigkeit und nicht aufgrund von erheblich darüber liegenden Spitzengeschwindigkeiten ereignet haben, ist eine Höchstgeschwindigkeitsanordnung von z.B. 100 km/h ungeeignet. Sind - im Rahmen des haushaltmäßigen möglichen - bauliche Maßnahmen (z.B. Wechselverkehrszeichen, Streckenausbau) erforderlich, um den Verkehrssicherheitsdefiziten wirksam zu begegnen, sind diese vorzunehmen. Eine Geschwindigkeitsanordnung könnte allenfalls als "Übergangslösung" greifen.

Die Straßenverkehrsbehörde ist nach alledem nicht nur gehalten, für den in Betracht kommenden Streckenabschnitt u.a. die Verkehrsdichte und die Unfallzahlen tatsächlich zu erheben; sie hat darüber hinaus für diesen Streckenabschnitt auch konkret darzulegen, daß die festgestellte Verkehrsdichte bezogen auf die Unfallrate ein Sicherheitsrisiko darstellt, welches das allgemeine Risiko der Teilnahme am Straßenverkehr auch bei hohem Verkehrsaufkommen erheblich übersteigt und die beabsichtigte konkrete Geschwindigkeitsbeschränkung erfordert, um in geeigneter Weise die Unfallanzahl zu reduzieren. Bei der Geschwindigkeitsanordnung ist zusätzlich zu berücksichtigen, ob der Verkehrsablauf wirklich ganztägig eine Verkehrsbeschränkung erfordert. Ist Grundlage der Geschwindigkeitsanordnung ein erhöhtes Unfallaufkommen zu bestimmten Tageszeiten (beispielsweise während des Berufsverkehrs), kann dies nicht eine ganztägige, zeitlich undifferenzierte Anordnung rechtfertigen. Gerade die zeitliche Beschränkung von Geschwindigkeitsanordnungen ist nach der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) zu §§ 39 bis 43, zu Abschnitt III, zu Ziffer 15 ausdrücklich möglich und als weniger stark in die eigene Verantwortung des Kraftfahrers eingreifendes Mittel anzuordnen.

Im Auftrag gez.

(Frick)


Dieses Schreiben veröffentlichte Herr Horst Fuhse auf seiner Website. Es handelt sich um die Stellungnahme des Oberbundesanwaltes beim Bundesverwaltungsgerichts zum Verfahren BVerwG 3 C 9.98 in der Tempo100-Sache gegen das Landesamt für Straßenbau und Straßenverkehr Schleswig-Holstein.

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